Ich liebe es mit meiner Tochter zu spielen – oder wie sie es sagt ‚Wollen wir ein spiel-Spiel spielen?‘. Verstecken, fangen, Memory, Puzzel oder jedes andere Spiel, im Prinzip ist es völlig egal. In dieser Zeit geht es uns darum gemeinsam Zeit zu verbringen und diese Zeit auch wirklich zusammen zu gestalten.
Also saßen wir im Wohnzimmer auf dem Fußboden und spielten ‚XX‘. Ein Spiel für Kinder ab 3 Jahren. In dem Spiel wählt man eine Spielfigur, hat einen Farbwürfel und zieht seine Spielfigur auf das nächste farbige Feld, das man gewürfelt hat. Methodisches Highlight ist die Farbe Weiß auf dem Würfel – da muss der Spieler eine Karte ziehen und mit seiner Figur auf das Feld ziehen, dessen Bild (z.B. Drache, Eule, …) er gezogen hat. Liegt das Feld in Richtung Ziel darf man nach vorne gehen. Hat man das Feld schon hinter sich gelassen, muss man zurück. Soweit so einfach… – dachte ich, ich hatte ja schließlich die Spielanleitung gelesen.
Also fingen wir an. Aber noch bevor wir wirklich loslegten, begann meine Lehrstunde. Das gestaltete sich so:
Sie: ‚Welche Farben nimmst Du denn?‘
Ich: ‚Blau.‘
Sie: ‚Und welche noch? Ich nehme Orange, Gelb und Pink.‘
Ich: Pause, beginnende Verwirrung… ‚Aber Du kannst doch nicht mehrere Farben nehmen.‘ (gedacht: ‚Steht ja schließlich so auch in der Spielanleitung‘)
Sie: ‚Ist doch viel lustiger so.‘
Ich: Gesteigerte Verwirrung… ‚Aber wie wollen wir das denn dann spielen, das geht doch gar nicht. Da weiß man ja nicht wer dran ist.‘ (gedacht: ‚Ich erkläre noch mal die Regeln, dann klappt das schon. Ich spiele mit Blau und sie nimmt Pink, ist ja schließlich auch ihre Lieblingsfarbe.‘)
Nochmal ich: ‚Schau mal, ich nehme Blau und du kannst Pink nehmen. Damit… (der Rest siehe Spielregeln).‘
Sie: ‚Papa, schau mal. Ich nehme Orange, Gelb und Pink und Du die anderen Farben. Ich fange an.‘
Ich: Hilflos und konfus… ‚Äääh ja, ok, dann mach mal…‘ (gedacht: ‚Das kann nix werden. Das geht doch ganz anders. Das wird sie schon früh genug feststellen…‘).
Was war passiert? Ich hatte mir die Regeln für unser Spiel angeschaut und kam gar nicht auf die Idee das Spiel anders zu spielen. Von den Regeln abweichen – geht nicht. Steht ja schließlich in den Spielregeln, wie man es richtig spielt. An dieser Stelle entstand Stress. Aber nur für mich. Die Gefahr, dass die Stimmung kippt war durchaus gegeben. Hätte ich darauf bestanden das Spiel nach den vorliegenden Regeln zu spielen, wären wir nicht wirklich weit gekommen. Wir hätten, besser noch ich hätte, durch mein Verhalten dafür gesorgt, dass die Situation auf ein ‚machen wir was anderes‘ hinausläuft. Ihr waren die Spielregeln egal.
Ich war in meiner typisch erwachsenen Konditionierung natürlich davon ausgegangen, dass man Spiele so spielt, wie es in der Spielanleitung steht. Mir war ‚klar‘ was wir spielen und wie wir es spielen. Es hat sich ja schließlich irgendwer die Mühe gemacht das sogar aufzuschreiben. Entsprechend muss man ja nicht darüber nachdenken und man kann das, was gegeben ist schon gar nicht umdenken. Ist doch gut so, wie es ist…
Glücklicherweise habe ich mich darauf eingelassen und habe mich, mit einer ‚schauen wir mal was kommt Haltung‘, auf unser ‚spiel-Spiel‘ eingelassen. Nach kurzer Zeit war mir klar, dass ich die Spielregeln, die ich gelesen und verstanden hatte, vergessen konnte. Die Spielregeln änderten sich fast bei jedem Spielzug. Sie hatte in jeder Situation eine neue ‚Regel‘ parat und so spielten wir unser ‚spiel-Spiel‘ und wir hatten – überaschenderweise – einen riesigen Spaß dabei.
Meine Frau, die uns dabei beobachtete, schüttelte zwischendurch irritiert, aber lachend, den Kopf und fragte, was wir denn da machen würden. Das geht doch normalerweise ganz anders. Ja, normalerweise – aber nicht heute. Heute waren es neue Ideen, und genau diese neuen und sich ständig ändernden Regeln und Möglichkeiten, die ‚normal‘ waren. Irgendwann hatte unser Spiel eine Komplexität an Regeln erreicht, die aus einem Kinderspiel ein großartiges Strategiespiel für Führungskräfte oder Manager machen würde. Sofern man die ursprünglichen Spielregeln umschreiben würde. Oder würde es ein großartiges Training für Führungskräfte oder Manager werden, eben weil sich die Regeln ständig veränderten und weiterentwickelten?
Ich muss dazusagen, dass ich beruflich als Führungskraft, Coach, Mentor und Trainer viel mit Menschen arbeite, die sich beruflich wie privat an bestehende Regeln halten. Die es gewohnt sind Dinge so zu tun, wie man sie nun mal gelernt hat und folgerichtig auch so und nicht anders tun. Die verantwortlich sind für Projekte, Teams oder ganze Organisationen. Erwachsene Menschen also, die andere Menschen führen, die ebenfalls wiederum genau wissen, was sie tun und wie sie es tun. Jeder dieser Menschen kann zu 100% sagen, WAS er tut. Einige können auch erklären WIE sie es tun.
Aber was passiert, wenn sich die Regeln ändern? Was passiert, wenn jemand nach anderen Regeln spielt? Was passiert, wenn jemand die gegebenen Regeln in Frage stellt? Oder, wenn jemand das WAS und WIE für sich anders lebt?
Kurz zurück zu unserem Wohnzimmerboden. Wir hatten ungefähr 30 Minuten gespielt als folgendes passierte:
Sie: ‚Papa, du bist dran.‘
Ich: Werfe den Würfel, der Würfel zeigt eine Farbe und ich ziehe ein paar Felder vor. ‚Mensch, jetzt muss ich mich aber beeilen, da stehen ja schon zwei deiner Figuren. Da hast du gleich gewonnen.‘
Sie: Würfelt, nimmt einen ‚meiner‘ Spielsteine und zieht ihn auf das letzte Feld ‚Super! Papa deine Mannschaft hat gewonnen!‘
Ich: Verwirrt ‚Aber Du musst doch Deine Spielfigur nehmen…?‘
Sie: ‚Warum, das ist doch egal, es geht doch darum, dass wir ein spiel-Spiel spielen.‘
Da wurde mir die eigentliche Regel, die alles andere bestimmt hat, aber nie ausgesprochen wurde, erst bewusst. Das WAS und das WIE haben mich vom eigentlichen Grund unseres Spiels abgelenkt. Beides war mir klar. Was tun wir? Wir spielen ein spiel-Spiel. Wie tun wir es? Wir spielen es nach unseren Regeln (nicht nach den eigentlichen Spielregeln). Das Warum, hat für uns allerdings die Situation und unsere gemeinsame Zeit bestimmt. Das Warum, war die einzige dauerhafte Regel. Es ging unabhängig von den offensichtlichen Regeln darum, dass wir zusammen einfach ein ‚spiel Spiel‘ spielen. Diese Regel hat keiner von uns in Frage gestellt. Unsere Motivation lag darin einfach gemeinsam Zeit zu verbringen. Das war unser WARUM. Das war es wofür wir in diesem Moment standen und um was es uns eigentlich ging.